Gesetzesmaterialien zu Art. 96 MWSTG 2010

Parlamentarische Beratungen

Die parlamentarischen Beratungen des MWSTG 2010 aus dem Jahr 2009 finden sich hier: Parlamentarische Beratungen

Gesetzesfahne

Die Gesetzesfahne zeigt die durch das Parlament diskutierten Änderungen des Gesetzestextes verglichen mit dem Botschaftstext.

Botschaft 2008

Unten finden sie den Botschaftstext zu dieser Bestimmung. Die ganze Botschaft finden sie unter diesem Link: Botschaft 2008

BBl 2008, S. 7018 ff.

Absatz 1: Im Unterschied zur direkten Bundessteuer sind bei der MWST die steuerpflichtige Person und der Steuerträger, also der Konsument oder die Konsumentin, nicht identisch. Die steuerpflichtige Person übt eine treuhänderische Funktion aus und kann mit einer Inkassostelle verglichen werden (BGE 2A.344/2002). Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung gilt eine Steuer bereits dann als hinterzogen, wenn sie der ESTV nicht fristgerecht entrichtet wird (BGE 6S.217/2004). Steuerpflichtige Personen, die der ESTV die einkassierte MWST nicht abliefern, schädigen nicht nur den Bund, sie verschaffen sich auch einen (unrechtmässigen) wirtschaftlichen Vorteil gegenüber korrekt abrechnenden Steuerpflichtigen. Diese Konsequenz des heutigen Rechts ist sehr streng und wird in der Praxis so nicht gehandhabt. Vielmehr soll die steuerpflichtige Person die Möglichkeit haben, am Ende des Jahres ihre MWST-Abrechnungen mit ihrer Buchhaltung abzustimmen. Erst wenn in diesem Rahmen Fehler nicht behoben werden, kommt eine Bestrafung wegen Steuerhinterziehung in Betracht. Das wird neu gesetzlich fixiert durch die Bestimmungen in Absatz 6 sowie in Artikel 103 Absatz 4 E-MWSTG. Für die Anwendbarkeit des Tatbestandes der Steuerhinterziehung sind also die jährlichen Steuerperioden und nicht die Abrechnungsperioden massgebend. Damit der Grundsatz der Gesetzmässigkeit respektiert wird und insbesondere genau aufzeigt werden kann, welche Handlungen strafbar sind (nullum crimen, nulla poena sine lege certa), ist es notwendig, den Begriff der Steuerhinterziehung klar und präzis zu definieren. DerÄnderungsvorschlag nimmt die in Artikel 60 MWSTV verwendete Formulierung wieder auf. Mit dieser Formulierung wird überdies deutlich gemacht, dass den Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt, wer die beim Kunden oder bei der Kundin einkassierte MWST der ESTV nicht abliefert. Das Strafmass lautet auf Busse bis zum Fünffachen des unrechtmässig erzielten Vorteils und ist mit dem geltenden Recht identisch. Die Busse entspricht auch derjenigen der Zollhinterziehung gemäss Artikel 118 ZG.

Absatz 2: Die geltenden Bestimmungen genügen nicht, um effektiv gegen das organisierte Verbrechen und gegen Fiskaldelikte, die gewerbsmässig begangen werden, vorzugehen. Heute ist es oft so, dass die Täter die Tatbestandsmerkmale des Steuerbetrugs gemäss Artikel 14 VStrR91 nicht erfüllen und ihnen «nur» eine Busse angedroht werden kann. In Anlehnung an das neue Zollgesetz (Art. 118 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 124 ZG) sind die Sanktionen beim Vorliegen erschwerender Umstände erhöht worden. In diesen Fällen ist jedoch die Androhung einer Busse ein wenig abschreckendes Sanktionsmittel. Der Gesetzesentwurf sieht deshalb vor, dass für Täter und Täterinnen oder Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die gewerbsmässig handeln oder die eine oder mehrere Personen für eine Widerhandlung anwerben, auf eine Freiheitsstrafe von höchstens einem Jahr erkannt werden kann. Im Falle erschwerender Umstände muss die Steuerhinterziehung als Vergehen qualifiziert werden (Art. 10 Abs. 3 StGB). In diesem Zusammenhang ist auch Artikel 2 Ziffer 3 des Betrugsbekämpfungsabkommens zwischen der Schweiz und der EU von Bedeutung. Nach dieser Bestimmung fällt das Waschen von Erträgen aus Hinterziehungshandlungen unter das Abkommen, wenn diese Handlungen nach dem Recht beider Vertragsstaaten mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmass von mehr als sechs Monaten bedroht sind. Die ESTV und die EZV haben aber keine Kompetenz, Freiheitsstrafen auszusprechen. Deshalb müssen sie im Einverständnis mit dem EFD und gemäss Artikel 73 VStrR die Akten der kantonalen Staatsanwaltschaft zuhanden des zuständigen Strafgerichtes überweisen. Die erschwerenden Umstände sind im Gesetz abschliessend genannt: es handelt sich um das Anwerben einer oder mehrer Personen, um eine Widerhandlung gegen das Mehrwertsteuergesetz zu begehen, sowie um das gewerbsmässige Verüben von Widerhandlungen gegen das Mehrwertsteuergesetz. Gemäss Rechtsprechung (BGE 129 IV 253) handelt der Täter oder die Täterin gewerbsmässig, wenn sich aus der Zeit und den Mitteln, die er oder sie für die deliktische Tätigkeit aufwendet, aus der Häufigkeit der Einzelakte innerhalb eines bestimmten Zeitraums sowie aus den angestrebten und erzielten Einkünften ergibt, dass er oder sie die deliktische Tätigkeit wie einen Beruf, wenn auch als Nebenberuf, ausübt. Wesentlich ist ausserdem, dass der Täter oder die Täterin sich darauf einrichtet, durch sein oder ihr deliktisches Handeln relativ regelmässige Einnahmen zu erzielen, die einen namhaften Beitrag an die Lebenshaltungskosten darstellen, und er oder sie sich somit gleichsam in der Kriminalität eingerichtet hat. Der Täter oder die Täterin muss die Tat bereits mehrfach und mit der Absicht, Einnahmen zu erzielen, begangen haben. Zudem muss er oder sie bereit sein, diese Taten zu wiederholen (BGE 119 IV 129). Die erschwerenden Umstände können nur im Rahmen einer vorsätzlichen Steuerhinterziehung geahndet werden. Daher sind unbeabsichtigte wiederkehrende Abrechnungsfehler nicht Tatbestand der gewerbsmässigen Steuerhinterziehung.

In der Vernehmlassung wurde teilweise vorgebracht, die Hinterziehung bei erschwerenden Umständen sei in einem eigenen Artikel zu regeln, da die aktuelle Formulierung es erlauben würde, die internationale Rechtshilfe in Strafsachen auf die einfachen Steuerhinterziehungen auszuweiten und dadurch das Bankgeheimnis zu gefährden. Diese Gefahr besteht jedoch nicht. Im Betrugsbekämpfungsabkommen mit der EU vom 26. Oktober 2004 ist ein Informationsaustausch auch im Bereich der indirekten Steuern vorgesehen, und zwar nicht nur in den Fällen des Steuerbetrugs gemäss Artikel 14 Absatz 2 VStrR, sondern auch bei der Steuerhinterziehung, wenn der hinterzogene Betrag 250 000 Euro übersteigt. Für die Länder, welche nicht Partei des genannten Abkommens sind, sehen Artikel 3 IRSG92 und Artikel 24 IRSV93 hingegen ausdrücklich vor, dass einzig Auskunftsgesuche im Zusammenhang mit Steuerbetrug gemäss Artikel 14 Absatz 2 VStrR zulässig sind. Die Steuerhinterziehung bei erschwerenden Umständen kann nicht als Steuerbetrug qualifiziert werden, da die Arglist nicht Tatbestandselement der Hinterziehung ist. Handelt eine Person arglistig, kann sie aufgrund der Konkurrenzbestimmungen in Artikel 102 E-MWSTG einzig nach Artikel 14 Absatz 2 VStrR belangt werden. Es besteht damit keine Gefahr, dass aufgrund eines Gesuchs aus einem Land, welches nicht am Betrugsbekämpfungsabkommen teilnimmt, eine einfache Steuerhinterziehung Gegenstand eines internationalen Rechtshilfeverfahrens in Strafsachen werden könnte.

Absatz 3: Einige Vernehmlassungsteilnehmer und –teilnehmerinnen verlangen die Aufhebung dieses Absatzes, weil eine versuchte Steuerhinterziehung dem Konzept der Finalisierung der Steuerabrechnung widersprechen würde. Nun ist es aber so, dass eine steuerpflichtige Person, die wissentlich eine unrechtmässige Steuerrückerstattung beantragt und ihre Steuerabrechnung nicht finalisiert, oder sich nicht selber anzeigt, bestraft werden können muss. Denn tatsächlich liegt eine versuchte Steuerhinterziehung vor, wenn die ESTV die Unrechtmässigkeit eines Steuerrückerstattungsgesuches erkennt und den Steuerbetrag nicht zurückerstattet. Folglich muss die versuchte Steuerhinterziehung geahndet werden können.

Absatz 4: Im Bereich der indirekten Steuern ist die Fahrlässigkeit stets strafbar (Art. 60 VStG und Art. 45 StG). Das fahrlässige Verüben einer Straftat bleibt auch hier strafbar.

Absatz 5: Heute spricht das Gesetz von hinterzogenen Steuern und unrechtmässigem Steuervorteil, ohne zu präzisieren, was diese unterschiedlichen Begriffe verbindet. In der Praxis ist es manchmal aufgrund der unvollständigen Buchhaltung unmöglich, den unrechtmässigen Steuervorteil exakt festzustellen. In solchen Fällen schätzt die ESTV den Steuerbetrag nach pflichtgemässem Ermessen ein (Art. 79 E-MWSTG). Dieser Steuerbetrag muss so realitätsnah wie möglich sein. Aus Gründen der Rechtssicherheit ist explizit vorzusehen, dass eine Steuereinschätzung als Grundlage für die Festsetzung des strafrechtlichen Rahmens dienen kann. Artikel 77 Absatz 3 MWSTV sah bereits eine ähnliche Vorgehensweise vor, setzte allerdings den hinterzogenen Steuerbetrag dem gefährdeten gleich. Um eine derartige Gleichstellung zu vermeiden, wurde die Formulierung dieser Bestimmung angepasst.

Absatz 6: Angesichts der bestehenden Möglichkeit, die deklarierten Umsätze und die geltend gemachte Vorsteuer in der Abrechnung mit der Buchhaltung abzu-stimmen und allfällige Differenzen zu korrigieren (Art. 71 E-MWSTG), sieht das Gesetz vor, dass ein allfälliges strafbares Verhalten der steuerpflichtigen Person für Unstimmigkeiten zwischen den deklarierten und den verbuchten Umsätzen erst dann vorliegt, wenn die Frist von 180 Tagen seit Ende des betreffenden Geschäftsjahres abgelaufen ist und die Mängel in der entsprechenden Abrechnung nicht korrigiert worden sind (Art. 71 Abs. 1 E-MWSTG).