Unzutreffende Auslegung

Wichtige Einsprachegründe

sind in der Praxis die Verletzung von Bundesrecht durch die

falsche Ermittlung des massgeblichen Rechts, die unzutref-

fende Auslegung oder die unrichtige Anwendung eines

Rechts satzes auf einen bestimmten Sachverhalt [42].

Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der

Bestimmung (grammatikalische Auslegung). Ist der Text

nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen mög-

lich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden.

Dabei kommt es namentlich auf den Zweck der Regelung,

die dem Text zugrundeliegenden Wertungen (teleologische

Auslegung) sowie auf den Sinnzusammenhang (systemati-

sche Auslegung) an, in dem die Norm steht. Die Gesetzes-

materialien (z. B. die Botschaft) sind (im Rahmen der histo-

rischen Auslegung) zwar nicht unmittelbar entscheidend,

dienen aber als Hilfsmittel, den Sinn der Norm zu erken-

nen [43]. Da die Schweizer MWST historisch auf der euro-

päischen Mehrwertsteuerrichtlinie basiert, kann für die

Auslegung des schweizerischen Mehrwertsteuerrechts die

Auslegung der europäischen Mehrwertsteuerrichtlinie durch

den europäischen Gerichtshof hilfreich sein [44].

Die Rechtsprechung lehnt es weiter ab, diese Auslegungs-

elemente einer Prioritätsordnung zu unterstellen [45]. Im

Mehrwertsteuerbereich halten sich die Gerichte aber nicht

an diese Regel.

Die gegenwärtige MWST-Rechtsprechung wendet heute

oft die wirtschaftliche Betrachtungsweise an und geht dabei

davon aus, dass die mehrwertsteuerliche Auslegung von

Vorgängen nicht in erster Linie aus einer zivil-, sprich

vertrags rechtlichen Sicht, sondern aus einer wirtschaftli-

chen, tatsächlichen Sicht zu erfolgen hat. Der wirtschaftli-

chen Betrachtungsweise kommt gemäss dieser Rechtspre-

chung im Bereich der MWST nicht nur bei der rechtlichen

Beurteilung von Sachverhalten, sondern auch bei der Aus-

legung von zivilrechtlichen und von steuerrechtlichen Be-

griffen Bedeutung zu. Nicht entscheidend ist deshalb

grundsätzlich, wie die Parteien ihr Vertragsverhältnis ausge-

stalten [46]. Das Bundesgericht hat im Entscheid 2A.369/2005

vom 24. August 2007, E. 5.1 mit Hinweisen aber auch festge-

halten, das die zivilrechtlichen Kriterien grundsätzlich auch

für die steuerrechtliche Würdigung des Rechtsgeschäfts

massgebend bleiben.

Nach Reich handelt es sich bei der wirtschaftlichen Betrach-

tungsweise um «eine teleologische Sicht der Dinge» [47].

Damit lässt sich sagen, dass die Gerichte in MWST-Angele-

genheiten der teleologischen Sichtweise den Vorrang gegen-

über dem Wortlaut der Bestimmung (d. h. der grammatika-

lischen Sicht) geben. Das ist unglücklich, aber bei der Ver-

fassung von Einsprachen zu berücksichtigen. Zudem führt

diese von den zivilrechtlichen Begriffen losgelöste mehr-

wertsteuerrechtliche Interpretation (z. B. beim Begriff der

Stellvertretung) zu zusätzlicher und unnötiger Rechtsunsi-

cherheit. Im Sinn von Matteotti ist deshalb zu hoffen, dass

«das Bundesgericht dereinst die Gelegenheit finden wird,

im derzeit herrschenden Methodenwirrwarr rund um die

wirtschaftliche Betrachtungsweise ein klärendes Wort zu

sprechen» [48].

Eine weitere Auslegungsspezialität im Bereich der MWST

ist die Auslegung von Ausnahmen nach Art. 21 MWSTG. Hier

hält die Rechtsprechung fest, dass diese sogenannten un-

echten Ausnahmen von der MWST als grundsätzlich um-

fassender Verbrauchssteuer einschränkend auszulegen sind.

Zweck von Art. 21 MWSTG ist es, den Endverbraucher aus

sozial-, kultur- oder wirtschaftspolitischen Motiven zu be-

günstigen und nur dann eine Ausnahme zu gewähren [49].