A-1805/2012

Urteil vom 14. Mai 2012

Besetzung

Richter Michael Beusch (Vorsitz),

Richter Daniel Riedo, Richter Markus Metz,

Gerichtsschreiber Stefano Bernasconi.

Parteien

A._______, ...,

Beschwerdeführer,

gegen

Eidgenössische Steuerverwaltung ESTV, Hauptabteilung Mehrwertsteuer, Schwarztorstrasse 50, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand

Gesuch um Erlass der Mehrwertsteuer.

Sachverhalt:

A.

A._______ (Steuerpflichtiger, Beschwerdeführer) betreibt ein [...] und war in den Jahren 2000 bis 2003 im Register der mehrwertsteuerpflichtigen Personen eingetragen. Per 31. Dezember 2003 wurde er infolge Unterschreitens der Umsatzgrenze wieder aus der Mehrwertsteuerpflicht entlassen.

B.

In der Zeit zwischen dem 28. November 2008 und dem 23. März 2010 forderte die ESTV den Steuerpflichtigen mehrfach auf, Informationen zur Überprüfung der Wiedereintragung als Mehrwertsteuerpflichtiger einzureichen. Nach Erhalt der Umsatzangaben des Steuerpflichtigen am 17. Mai 2010 und deren Prüfung wurde er von der ESTV am 8. Juli 2010 mit Wirkung ab dem 1. Januar 2008 erneut ins Register der Mehrwertsteuerpflichtigen eingetragen.

C.

In der Folge stellte der Steuerpflichtige am 2. Juni 2011 bzw. am 21. Oktober 2011 Gesuche um Erlass der Mehrwertsteuerforderungen für die Jahre 2009 und 2010. Er begründete diese damit, dass es für ihn eine grosse finanzielle Härte bedeuten würde, wenn er die Beträge von Fr. 377.60 für das Jahr 2009 und von Fr. 6'987.60 für das Jahr 2010 zuzüglich Verzugszinsen und Kosten bezahlen müsste.

D.

Mit Verfügung vom 2. März 2012 trat die ESTV auf das Erlassgesuch des Steuerpflichtigen nicht ein und begründete dies damit, dass sie nur auf Erlassgesuche mit rechtskräftig festgesetzten Mehrwertsteuerforderungen eintreten könne. Die Mehrwertsteuerforderung des Jahres 2010 sei nach wie vor nicht rechtskräftig geworden, da der Steuerpflichtige nicht mitgeteilt habe, ob er für diese Mehrwertsteuerforderung vorab einen Steuerjustizentscheid möchte oder ob er sie anerkenne und diesbezüglich auf seine Rechtsmittel verzichte. Aus diesem Grund entspreche das Erlassgesuch den gesetzlichen Anforderungen nicht und es könne deshalb nicht darauf eingetreten werden. Zudem sei die ab dem 1. Januar 2010 in Kraft getretene neue Erlassbestimmung gemäss Art. 92 MWSTG nur auf Steuerforderungen ab dem 1. Januar 2010 und nicht rückwirkend auf ältere Steuerforderungen - somit auch nicht auf die Steuerforderung von Fr. 377.60 aus dem Jahre 2009 - anwendbar.

E.

Gegen diese Verfügung erhob der Steuerpflichtige mittels elektronischer Eingabe vom 2. April 2012 Beschwerde bei der Bundeskanzlei. Diese elektronische Eingabe wurde dem Bundesverwaltungsgericht am 3. April 2012 ebenfalls elektronisch von der Bundeskanzlei, Sektion elektronischer Behördenverkehr Web BK, weitergeleitet. Nach entsprechender Aufforderung vom 5. April 2012 reichte der Beschwerdeführer innert Frist mit schriftlicher und unterzeichneter Eingabe vom 16. April 2012 die Beschwerdeschrift auf postalischem Weg beim Bundesverwaltungsgericht ein und beantragt, dass ihm die offenen Mehrwertsteuerforderungen zu erlassen seien, da er nicht genügend finanzielle Mittel habe, um diese zu bezahlen. Gleichzeitig stellt er ein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.

F.

Auf das Einholen einer Vernehmlassung sowie der Akten wurde verzichtet.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.1. Das Bundesverwaltungsgericht beurteilt gemäss Art. 31 des Bun­desgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgerichtsgesetz, VGG, SR 173.32) Beschwerden gegen Vefügungen nach Art. 5 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG, SR 172.021), sofern keine Ausnahme nach Art. 32 VGG gegeben ist. Eine solche liegt hier nicht vor, und die Vorinstanz ist eine Behörde im Sinn von Art. 33 VGG. Das Bundesverwaltungsgericht ist demnach für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde sachlich zuständig.

1.2. Im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht bildet der vor­instanzliche Beschwerdeentscheid das Anfechtungsobjekt. Vorliegend trat die Vorinstanz auf das Erlassgesuch des Beschwerdeführers nicht ein. Mit einer Beschwerde gegen einen solchen Nichteintretensentscheid kann nur geltend gemacht werden, die Vorinstanz habe zu Unrecht das Bestehen der Eintretensvoraussetzungen verneint. Damit wird das Anfechtungsobjekt auf die Eintretensfrage beschränkt, deren Verneinung als Verletzung von Bundesrecht mit Beschwerde gerügt werden kann (BGE 132 V 74 E. 1.1; Urteile des Bundesverwaltungsgerichts A 2890/2011 vom 29. Dezember 2011 E. 1.6, A-5654/2009 vom 26. November 2010 E. 1.2, A-855/2008 vom 20. April 2010 E. 2.1, A 1642/2006 vom 15. September 2008 E. 1.3). Die beschwerdeführende Partei kann entsprechend nur die Anhandnahme beantragen, nicht aber die Aufhebung oder Änderung der Verfügung verlangen; auf materielle Begehren kann nicht eingetreten werden (statt vieler: Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-5798/2007 vom 6. Juli 2009 E. 1.4, A-5104/2007 vom 19. Januar 2009 E. 1.3; vgl. André Moser/Michael Beusch/Lorenz Kneubühler, Prozessieren vor dem Bundesverwaltungsgericht, Basel 2008, Rz. 2.164).

Das Bundesverwaltungsgericht kann demnach im vorliegenden Fall einzig prüfen, ob die Vorinstanz auf die Beschwerde hätte eintreten müssen. Insofern der Beschwerdeführer allenfalls eine materielle Überprüfung des Entscheids der Vorinstanz verlangen sollte, kann nicht auf die Beschwerde eingetreten werden. Mit dieser Einschränkung ist auf die im Übrigen form- und fristgerecht eingereichte Beschwerde einzutreten.

2.

Am 1. Januar 2010 ist das neue Bundesgesetz vom 12. Juni 2009 über die Mehrwertsteuer (MWSTG, SR 641.20) in Kraft getreten. Auf alle Sachverhalte, die sich ab dem 1. Januar 2010 zugetragen haben, kommt demnach das neue MWSTG zur Anwendung. Soweit sich ein zu beurteilender Sachverhalt im Jahre 2009 oder früher, also vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes, zugetragen hat, bleiben gemäss Art. 112 Abs. 1 MWSTG die bisherigen gesetzlichen Bestimmungen sowie die gestützt darauf erlassenen Vorschriften grundsätzlich weiterhin auf alle während ihrer Geltungsdauer eingetretenen Tatsachen und entstandenen Rechtsver­hältnisse anwendbar. Das vorliegende Verfahren untersteht deshalb in materieller Hinsicht für die Steuerperiode 2010 dem MWSTG und für jene des Jahres 2009 dem Bundesgesetz vom 2. September 1999 über die Mehrwertsteuer (aMWSTG, AS 2000 1300) sowie der dazugehörigen Verordnung vom 29. März 2009 (aMWSTGV, AS 2000 1347).

Demgegenüber ist das neue mehrwertsteuerliche Verfahrensrecht im Sinn von Art. 113 Abs. 3 MWSTG auf sämtliche im Zeitpunkt des Inkraft­tretens hängige Verfahren anwendbar. Allerdings ist Art. 113 Abs. 3MWSTG insofern restriktiv zu handhaben, als gemäss höchstrichterlicher Rechtsprechung nur eigentliche Verfahrensnormen sofort auf hängige Verfahren anzuwenden sind, und es dabei nicht zu einer Anwendung von neuem materiellen Recht auf altrechtliche Sachverhalte kommen darf (ausführlich: Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-1113/2009 vom 23. Februar 2010 E. 1.3, vgl. auch Urteile des Bundesverwaltungsgerichts A-6299/2009 vom 21. April 2011 E. 2.2 und E. 5.7, A-6642/2008 vom 8. November 2010 E. 1.3, A-7652/2009 vom 8. Juni 2010 E. 1.3 mit Hinweisen).

Kein Verfahrensrecht in diesem engen Sinn stellt der im vorliegenden Verfahren zu prüfende Steuererlass gemäss Art. 92 MWSTG dar (vgl. dazu ausführlich Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-3469/2010 vom 15. April 2011 E. 2; a.M. jedoch ohne weitere Ausführungen Guido Müller, in: MWST Kommentar, Schweizerisches Mehrwertsteuergesetz mit den Ausführungserlassen sowie Erlasse zum Zollwesen, Regine Schluckebier/Felix Geiger [Hrsg.], Zürich 2012 [nachfolgend: MWSTG Kommentar], N. 5 zu Art. 92); vielmehr handelt es sich beim Steuererlass um ein Institut des materiellen Rechts. Dies bedeutet, dass eine rückwirkende Anwendung von Art. 92 MWSTG auf Sachverhalte vor dem 1. Januar 2010 nicht zulässig ist. Steuererlassgesuche für jene Steuerperioden beurteilen sich nach dem damals geltenden aMWSTG und im Speziellen nach Art. 51 aMWSTG.

3.

3.1. Die Vorinstanz hat in ihrem Nichteintretensentscheid ausgeführt, dass Art. 92 MWSTG nicht auf die Steuerforderung aus dem Jahr 2009 von Fr. 377.60 angewendet werden könne. Ein Erlass sei darum nicht möglich. Betreffend die Steuerforderung für das Jahr 2010 in der Höhe von Fr. 6'987.60 entschied die Vorinstanz, dass diese Mehrwertsteuerforderung nicht rechtskräftig festgesetzt sei, weil der Gesuchsteller - trotz Aufforderung - nicht mitgeteilt habe, ob er für diese Mehrwertsteuerforderung vorab einen Steuerjustizentscheid erwirken möchte oder ob er diese anerkenne und diesbezüglich auf sein Rechtsmittel verzichte. Das Erlassgesuch, so die ESTV weiter, genüge im Übrigen auch den gesetzlichen Anforderungen nicht und es könne darauf nicht eingetreten werden.

Der Beschwerdeführer selbst bringt in seiner Beschwerde zu den von der Vorinstanz in ihrer Verfügung betreffend Nichteintreten angesprochenen Punkten und Gründen nichts vor. Seine Ausführungen konzentrieren sich auf die Darlegung seiner finanziellen Verhältnisse, welche nicht ausreichen würden, um die Mehrwertsteuerforderungen zu begleichen, womit ein Fall von grosser Härte vorliege.

3.2. Wie in E. 2 ausgeführt, ist eine rückwirkende Anwendung von Art. 92 MWSTG nicht möglich. Gemäss Art. 51 aMWSTG kann die ESTV im Rahmen eines gerichtlichen Nachlassverfahrens einem Erlass der Steuer zustimmen. Eine mit Art. 92 MWSTG vergleichbare Regelung für einen Steuererlass gibt es im aMWSTG jedoch nicht. Der in Art. 51 aMWSTG vorgesehene Erlass regelt einzig einen - vorliegend nicht massgebenden - Fall im Rahmen eines gerichtlichen Nachlassverfahrens. Somit fehlt

es - wie die Vorinstanz richtig festgestellt hat - an einer gesetzlichen Grundlage für den Erlass der Mehrwertsteuerforderung des Jahres 2009 in der Höhe von Fr. 377.60 und ein solcher ist demzufolge nicht möglich.

3.3. Was das Jahr 2010 betrifft, so kann gemäss Art. 92 MWSTG nur eine rechtskräftig festgesetzte Steuer ganz oder teilweise erlassen werde (vgl. Guido Müller, a.a.O., N. 11 zu Art. 92). Es handelt sich dabei um eine objektive Voraussetzung für einen Steuererlass, denn nur bei einer rechtskräftig festgesetzten Steuer steht die (notwendigerweise zu kennende) Höhe für einen Erlass fest (vgl. Michael Beusch, Der Untergang der Steuerforderung, Zürich/Basel/Genf 2012, S. 208). Erst wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, können die weiteren Voraussetzungen gemäss Art. 92 Abs. 1 Bst. a-c MWSTG geprüft und die Steuer allenfalls erlassen werden. Fehlt es jedoch an einer rechtskräftig festgesetzten Steuer, ist auch bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen ein Erlass aufgrund der klaren gesetzlichen Regelung nicht möglich.

Die Steuerforderung des Beschwerdeführers für das Jahr 2010 war im Zeitpunkt der vorinstanzlichen Verfügung unbestrittenermassen noch nicht rechtskräftig festgesetzt, das objektive Kriterium somit nicht erfüllt und ein Steuererlass bereits aus diesem Grund ausgeschlossen.

3.4. Da für den Erlass der Mehrwertsteuerforderung für das Jahr 2009 keine gesetzliche Grundlage besteht und diejenige aus dem Jahr 2010 noch nicht rechtskräftig festgesetzt wurde, war ein Steuererlass nicht möglich.

Der Beschwerdeführer bringt nichts vor, was das soeben Ausgeführte zu erschüttern vermöchte. Seine Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf überhaupt eingetreten werden kann.

4.

Die Verfahrenskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Sie können jedoch ausnahmsweise erlassen werden (Art. 63 Abs. 1 VwVG und Art. 1 ff. des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE SR 173.320.2]), wenn entweder ein Rechtsmittel ohne erheblichen Aufwand für das Gericht durch Rückzug oder Vergleich erledigt wird (Art. 6 Bst. a VGEK) oder andere Gründe in der Sache oder in der Person der Partei es als unverhältnismässig erscheinen lassen, sie ihr aufzuerlegen (Art. 6 Bst. b VGEK). Aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Falles und der persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers erscheint es als unverhältnismässig, ihm die Kosten aufzuerlegen, weshalb sie zu erlassen sind.

Da dem Beschwerdeführer keine Kosten auferlegt werden, braucht auf sein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege vom 16. April 2012 nicht weiter eingegangen zu werden.

5.

Vorliegend handelt es sich um einen Entscheid betreffend Erlass von Abgaben. Er kann nicht mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht weitergezogen werden (Art. 83 Bst. m des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-3469/2010 vom 15. April 2011 E. 5).

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird.

2.

Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

3.

Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird als gegenstandslos geworden abgeschrieben.

4.

Dieses Urteil geht an:

- den Beschwerdeführer (Einschreiben)

- die Vorinstanz (Ref-Nr. ...; Einschreiben)

Der vorsitzende Richter: Michael Beusch

Der Gerichtsschreiber: Stefano Bernasconi